Benjamin, 5 Jahre
Unser Sohn Benjamin wird in 2 Wochen fünf Jahre alt. Am 1. April 1997 wurde er mit genau 10 Monaten und einer Woche aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen. Seine Krankheit wurde gleich nach der Geburt vermutet. Die endgültige Diagnose nach einer Reihe von Untersuchungen lautete nach einer Woche „Undine-Syndrom“ ohne Begleiterkrankungen. Im Wachzustand und wenn er gesund ist, hat er eine ausreichende Eigenatmung, im Schlaf muß er voll beatmet werden. In Infektzeiten reicht sein Atemantrieb aber auch tagsüber oft nicht aus, so daß er entweder beatmet oder über einen O2-Konzentrator mit Sauerstoff versorgt werden muß. Mit drei Monaten wurde er in München tracheotomiert. Die Entlassung verzögerte sich schlußendlich durch eine Pneunomie (die zweite in 10 Monaten), die Benjamin erst auskurieren mußte.
Im Thema unseres Vortrages geht es um die konkreten Probleme der Heimbeatmung bei einem Undine-Kind. So ist für einen guten Start zu Hause eine gute Vorbereitung unabdingbar. Um einen gelungenen und reibungslosen Übergang von der Klinik und ihren Bedingungen in die häusliche Normalität und ihre Besonderheiten zu ermöglichen, bedarf es dreier wichtiger Voraussetzungen. Ich möchte darauf nun wenigstens kurz eingehen.
Für wichtig halten wir das Engagement der Ärzte, sowohl menschlich als auch medizinisch und organisatorisch. Zweitens die Verhandlungen mit dem Kostenträger und als dritten Schritt die Suche nach einem geeigneten Pflegedienst (für Nachtwachen und stundenweise Unterstützung am Tag).
Aus unserer Sicht ist das Engagement der Ärzte wichtigster Punkt auf dem Weg nach Hause. Ihre Bereitschaft zur Kommunikation sowohl mit den Eltern (ihren Befürchtungen, Ängsten und Vorstellungen), den Kollegen (bezüglich Informationsaustausch medizinischer und organisatorischer Art), als auch mit dem Kostenträger und dem Pflegedienst lassen das Vorhaben gelingen oder scheitern. Wir sprechen hier von Ärzten, meinen aber in der Rückschau, daß die erwähnten Punkte eigentlich in den Aufgabenbereich eines Sozialdienstes fallen würden. Das Krankenhaus, in dem wir betreut wurden, hatte so etwas aber nicht, so daß wir auf die Hilfe der Ärzte angewiesen waren.
Eltern sind zu diesem Zeitpunkt mit ihren Kräften sehr weit unten. Nach dem Einarbeiten in die völlig unbekannte Materie der Beatmung, die Umstellung des gesamten Lebensrythmus und alltags auf die neue Situation, das Leben und Einstellen auf den Ablauf und die Gepflogenheiten einer Intensivstation, die Gespräche mit Ärzten und Pflegepersonal und nicht zuletzt die Pflege für und die Sorge um das eigene Kind,...nach einem mehrmonatigen Klinikaufenthalt sind die Kapazitäten da sehr gering. Da tut es gut, wenn andere helfen, den großen Berg der Verantwortung ein wenig abzutragen. Die Kostenträger benötigen sowieso ein ärztliches Gutachten, um über den Umfang und die Art der Leistung zu beraten und abzustimmen. Auch die Anschaffungen für Zuhause, wie z.B. das Beatmungsgerät, sind von solch immenser Bedeutung, daß die Eltern allein auf sich gestellt, hierin überfordert wären. So sind sie sehr auf die Beratung und Unterstützung kompetenter Ärzte angewiesen. Zu den weiteren Stolpersteinen, bzw. schwierigen Aufgaben gehört die Suche nach einem geeigneten Pflegedienst. Auch darin sind Eltern zu Beginn einfach überfordert und müssen sich auf das Urteil anderer unbedingt verlassen können. In unserem Fall war zwar die Unterstützung und Suche der Ärzte ein passender Pflegedienst recht schnell gefunden. Trotzdem verzögerte sich die Entlassung durch andere Probleme leider erheblich. Aus den geplanten fünf Monaten Klinikaufenthalt wurden demnach 10 Monate. Diese Wartezeit zermürbt und macht das inzwischen recht dünne Nervenkostüm zum Zerreißen gespannt. Waren die Vorbereitungen wichtig, so ist es Zuhause schier überlebenswichtig, das Leben neu zu organisieren. Der gesamte bisherige Alltag, der durch die Geburt eines Kindes bei jedem Ehepaar durcheinander gebracht wird, ändert sich mit einem beatmeten Kind von Grund auf.
Zuerst einmal wollen wir erläutern, was wir darunter verstehen. Hierzu sind uns ein zwei Begriffe eingefallen, nämlich „Eingeschränkte Eigenverantwortlichkeit“ und „Abhängigkeit“.
Beide Begriffe hängen zusammen und beschreiben am besten unsere Situation und die damit verbundenen Befindlichkeiten. Darunter verstehen wir, daß nichts in unserem Leben so sehr bestimmt und oft auch beeinträchtigt wie die Abhängigkeit von technischer, medizinischer, pflegerischer und nicht zuletzt damit verbundener menschlicher Unterstützung und Hilfe. An Technik begleitet uns ein Fuhrpark an Maschinen, Geräten und Einwegartikeln, die wir aus Mangel an Zeit nicht aufzählen möchten (obwohl es sehr imposant klingt und auch so ausschaut).
Zuständig dafür, daß diese Dinge funktionieren sind drei Medizintechniker mit unterschiedlichen Aufgabenbereichen. Wir sind immer heilfroh, wenn alle wichtigen Maschinen funktionieren oder Schäden aufweisen, die von uns behoben werden können, da Defekte a) immer lebensbedrohlich sein können und b) Herzklopfen und viele Telefonate verursachen.
Die beiden anderen Punkte, die unsere Abhängigkeit zeigen sind der Pflegedienst nebst Schwestern und die Klinik mit ihren Ärzten (und Schwestern).
Damit es überhaupt möglich ist, ein beatmetes Kind Zuhause zu betreuen, sind unbedingt ein Pflegedienst und geschultes Personal nötig. Wir kennen Eltern, für die es unvorstellbar ist, jede Nacht die Tür für eine fremde Person zu öffnen, sie in die Privatsphäre zu lassen und ihr die Verantwortung für das eigene Kind zu übergeben. Auch ist es nicht immer leicht, monatlich mit so vielen unterschiedlichen Menschen und Persönlichkeiten zurechtzukommen. Für alle Beteiligten ist es immer wieder eine Herausforderung, sich aufeinander einzustellen und mögliche Konflikte zu lösen. Wir haben festgestellt, daß wir ohne die Pflege und Unterstützung eines geeigneten Nachtdienstes nicht fähig wären, die Kräfte aufzubringen, unser Kind am Tag adäquat zu versorgen. So wiegen die Vorteile die Nachteile bei Weitem auf. Und so platt und banal das auch klingen mag, man kann sich an alles gewöhnen! Genauso wichtig wie die Schwestern (wir hatten leider bisher noch keinen einzigen Pfleger, was für Benjamin bestimmt auch mal ganz wohltuend wäre), ist ein Arzt als Ansprechpartner in der Klinik. Es treten gerade bei Infekten meistens auch Beatmungsprobleme auf. Eine Veränderung diverser Parameter, besonders des Druckniveaus, bedarf in manchen akuten Fällen durchaus der Absprache mit einem Arzt. Je besser und genauer er unser Kind und die damit verbundenen Probleme nur telefonisch abzuklären, ohne dazu in die Klinik zu müssen. Es ist uns nach wie vor wichtig, soviel wie möglich selber Zuhause zu erledigen und nur im Notfall oder wenn bestimmte Untersuchungen anstehen ins Krankenhaus zu fahren. Unser zuständiger Oberarzt der Intensivstation zu schulen und ihre und unsere Fragen , die sich im Laufe der Zeit immer wieder neu ergeben, zu besprechen und zu beantworten.
Das waren die äußeren Bedingungen. Im Mittelpunkt steht, trotz Maschinen, ein Mensch, unser Kind Benjamin. Was uns gegen Ende unseres Klinikaufenthaltes viele Eltern gesagt haben und wir aus ganzem Herzen hofften, ist schon bald nach der Entlassung eingetreten. Benjamin begann wirklich alles aufzuholen! Konnte er im April noch nicht sitzen, geschweige denn in Bauchlage seinen Kopf halten, schaffte er es innerhalb eines Jahres mit Unterstützung einer Krankengymnastin soweit, selbständig zu laufen.
Bestanden seine ersten Töne vorwiegend aus verschiedenen, nicht identifizierbaren Lauten („nagn“ war eins davon), waren wir über sein erstes „Papa“ und „Auto“ wirklich überglücklich („Mapa“, was soviel wie Mama heißen sollte, kam erst später). Heute spricht er trotz Kanüle ganze Sätze und erzählt ellenlange Phantasiegeschichten, so lange, daß sich meine Frau manchmal wehmütig an die Zeiten größerer Ruhe zurückerinnert.
In den ersten Monaten bzw. den ersten drei Jahren war Benjamin gesundheitlich sehr stabil. Anfang des Jahres 2000 bekam er dann doch eine handfeste Pneumonie, die uns in die Klinik zwang, wo er zum ersten Mal seit seiner Entlassung wieder mit Antibiotika behandelt werden mußte. Im Juni erwischte er durch einen unglücklichen Zufall Käse, so daß wir nach einen anaphylaktischen Schock (er ist auf Kuhmilch allergisch) wieder ins Krankenhaus mußte, wo sich zusätzlich noch eine Bronchitis dazu gesellte. Außer zu diversen Routineuntersuchungen (Bronchoskopie, EKG, etc.) brauchten wir seitdem nicht mehr in die Klinik.
Seit September besucht Benjamin nun voller Freude und Begeisterung mit einer Kinderkrankenschwester den integrativen Kindergarten bei uns am Ort. Es hat trotz eines sehr langen Vorlaufs und der Unterstützung eines kompetenten Sozialarbeiters ein 3/4 Jahr gedauert, bis wir vom Landratsamt grünes Licht für die Finanzierung bekamen. Natürlich kommt Benjamin nun mit jedem Infekt, der gerade so kursiert, nach Hause. Wir hatten Zeiten, in denen er eine Woche im Kindergarten und zwei Wochen daheim war. Je stärker der Infekt, desto schwächer der Atemantrieb auch tagsüber, so daß er weite Strecken im Bett am Beatmungsgerät verbringen muß, was er mit bewunderswerter Gelassenheit und Geduld tut. Sobald er wieder einigermaßen fit ist und nur noch leichten O2-Bedarf hat, schicken wir ihn wieder in den Kindergarten, da auch dort ein O2-Konzentrator steht. Wie wir vorher schon erwähnt haben, ist es uns sehr wichtig, Benjamin trotz seiner Behinderung und den damit verbundenen Einschränkungen so normal wie möglich aufwachsen zu lassen. Das bedeutet in vielen Dingen einen ungeheuren Balanceakt. Es bedeutet ein Jonglieren zwischen unleugbaren Realitäten und potenziellen Möglichkeiten.
Konkret gesprochen: Viele Dinge, die für andere Eltern mit Kindern selbstverständlich sind (z.B. längere Reisen zu unternehmen, auf denen das Kind einfach eine Zeitlang im Auto schläft. Abends noch auszugehen und einen Babysitter zu organisieren (unsere Schwestern trauen sich nicht, allein bei Benjamin zu bleiben), mit ihm zum Schwimmen zu gehen, ihn mit anderen Kindern eine zeitlang unbeaufsichtigt spielen zu lassen, etc) sind bei uns nur mit viel Aufwand oder gar nicht möglich. Das heißt auf der einen Seite, zu akzeptieren, daß es so ist, wie es ist und andererseits Energie und Phantasie spielen zu lassen und zu schauen, was aus einer Situation herauszuholen ist. Oft keine ganz leichte Aufgabe. Es bedeutet auch, zu akzeptieren, daß man viele Dinge einfach nicht allein schaffen kann, sondern Hilfe braucht, um weiterzukommen. Wir waren bisher einmal im Kurzurlaub; die ganze Sache erinnerte eher an einen Umzug, das Auto war bis unters Dach vollgepackt mit allen lebenswichtigen Dingen. Am Urlaubsort angekommen, stellten wir dann fest, daß wir an die einfachsten und banalsten Dinge (nämlich Windeln) ungeübt wie wir waren nicht gedacht hatten.... zumindest waren wir für jeden Notfall gewappnet. Möglich war die ganze Sache auch nur deshalb, weil zwei Schwestern sich bereit erklärt hatten, uns zu begleiten. Wir hatten ein eigenes Appartement für sie angemietet.
Bei unseren Kontakten läuft es ähnlich. Sobald Benjamin krank oder nicht fit genug ist, das Haus zu verlassen, sind wir darauf angewiesen, daß wir besucht werden. Das kann auf die Dauer eine recht einseitige Geschichte werden, je öfter das vorkommt. Für Benjamin aber ist es wichtiger, daß er den Kontakt zu seinen Freunden aus dem Kindergarten nicht verliert. Als Einzelkind wird ihm ein ganzer Tag zu Hause und womöglich ans Bett gefesselt eh schon extrem lang. Er soll ja nicht durch diese Umstände zum Außenseiter werden. Auch als Mutter ist es von Bedeutung, den Anschluß nicht zu verlieren. Wochenlang mit einem kranken Kind eingesperrt zu sein, kann einen schon manchmal an die Grenzen der psychischen und physischen Belastbarkeit bringen.
Somit kommen wir auch schon zum dritten Punkt unserer Abhandlung: Die Familie als System. Die Behinderung eines Kindes zieht auch die Eltern in Mitleidenschaft.
Zu Beginn steht die Auseinandersetzung mit der Tatsache: Unser Kind ist nicht gesund, es hat eine lebensbedrohliche Krankheit. Das bedeutet zuerst einmal Abschied zu nehmen von vielerlei Träumen, Wünschen und Hoffnungen.
Dann erfolgt die direkte Konfrontation. Wir begannen zu lesen, Kontakte aufzunehmen zu Ärzten, Spezialisten und anderen betroffenen Eltern. Wir versuchten, uns die Grundregeln von Beatmung, das Handling mit Benjamin und den ganzen technischen Geräten und noch so Vieles mehr anzueignen. Das schien uns manchmal fast leicht zu sein gegenüber der Aufgabe, uns mit der Rolle der Abhängigen auseinanderzusetzen. Eine uns bekannte Undinemutter sprach uns aus dem Herzen, als sie sagte, die Abhängigkeit sei die eigentliche Behinderung.
Das Paradoxe aber ist nun, daß wir auf der einen Seite Hilfe fordern, weil wir sie brauchen, weil wir es allein ohne Pflegepersonal nicht schaffen können. Auf der anderen Seite wäre wir aber gerne allein für unser Kind verantwortlich und würden uns gerne raussuchen, von wem wir Hilfe bekommen und von wem nicht. Das aber ist nicht möglich. Und dieses "weil wir es allein nicht schaffen können“ begründet unsere Abhängigkeit. Die Auseinandersetzung mit diesem Problem aber schließt zwangsläufig andere Menschen mit ein und genau das macht es so schwierig.
Hinzu kommt, daß wir zwar Eltern, aber trotzdem auch zwei eigenständige Persönlichkeiten sind, deren Gedanken, Gefühle und Reaktionen auf bestimmte Situationen nicht immer konform laufen. Da kommt es häufig zu Zündstoff, der von außen diktiert wird und erst einmal noch gar nicht soviel mit den Eltern als Paar zu tun hat. Auch Fragen der Zuständigkeit werden drängender, wer kümmert sich um was, kommt einer zu kurz, wieviel Freiraum steht jedem zu, was können wir noch gemeinsam machen, wer paßt in der Zeit auf Benjamin auf? etc. All diese Fragen und Probleme können sich sehr schnell anhäufen, so daß man in den täglichen Belastungen kaum noch Zeit und Lust für Gespräche über andere Themen und füreinander findet.
Aus diesen Punkten ergibt sich für uns folgender Schluß: Das Undine-Syndrom ist eine Krankheit, die alles auf den Kopf stellt und viele Probleme verursacht. Um diese so gering wie möglich zu halten, ist das A und O unserer Meinung nach eine gute Organisation. Ebenso sind Kooperation, Gesprächsbereitschaft und Konfliktfähigkeit aller Beteiligten unerläßlich. Und last but not least können kompetente Dritte wie Therapeuten und Sozialarbeiter eine gewisse Entlastung schaffen.
Beginnen möchten wir mit dem dritten Punkt, der Entlastung durch kompetente Dritte. Ein beatmungspflichtiges Kind Zuhause zu betreuen, stellt das ganze bisherige Leben auf den Kopf. Es schränkt ein und behindert nicht nur das Kind, sondern in gleicher Weise auch die Eltern. Probleme und Konflikte, die es in jeder Beziehung gibt, können sich durch diese verschärfte Situation plötzlich ausweiten und zu einer handfesten Krise werden. Die Verantwortung für das gemeinsame Kind kann nur einigen wenigen Menschen übertragen werden, so daß gemeinsame Veranstaltungen der Ehepartner dadurch oft zu kurz kommen. Auch spontane oder kurzfristige Aktionen sind nicht mehr oder kaum möglich. Deshalb erscheint es uns aufgrund unserer eigenen Erfahrung für extrem wichtig, sich rechtzeitig nach Hilfe umzuschauen. Das kann, wie in unserem Fall ein Sozialarbeiter sein, an den wir sprichwörtlich die meisten unangenehmen Aufgaben delegiert haben. Außerdem hat er jederzeit ein offenes Ohr, wenn es auf irgendeiner Ebene zu Konflikten kommt und hilft hier, Lösungen zu finden. Auch als Vermittler und Moderator in vielen Verhandlungen hat er sich bewährt, was uns als Eltern natürlich immer wieder sehr entlastet hat.
Desweiteren glauben wir, daß eine Ehe- oder Paarberatung helfen kann, nicht jeden Konflikt, den man z.B. mit einer Schwester hat, immer gleich auf die Paarebene zu bringen.
In diesem Zusammenhang möchten wir hier die Gesprächsbereitschaft (gepaart mit Konfliktfähigkeit) und der Bereitschaft zur Kooperation nennen, da sie eine notwendige Voraussetzung in allen Bereichen ist. Das Austauschen und Zusammentragen von Informationen, das Beachten diverser Ängste, Sorgen und Befürchtungen der verschiedenen Seiten, der Mut zur Ehrlichkeit gerade in Konfliktsituationen, die Bereitschaft Kompromisse zu schließen hilft immer, ob es nun um die Organisation der Entlassung, des häuslichen Lebens und die Verhandlung mit allen möglichen Behörden, Pflegediensten, Kostenträgern, etc. geht. Vielleicht könnte man es auch so formulieren: Zum Wohle des Patienten, sprich Kindes, sollte es jedem, der damit zu tun hat, ein Anliegen sein, mit allen anderen an einem Strang zu ziehen. Das schließt uns Eltern genauso ein, wie die Schwestern und Ärzte. Wir halten das nicht für einen übertriebenen Anspruch, auch wenn es vielleicht ein bißchen danach klingt. In sehr vielen Gesprächen mit betroffenen Eltern gab es immer wieder übereinstimmend die Aussage, daß Eltern, die in alle Entscheidungen ihr Kind betreffend eingebunden sein möchten, die selbständig Informationen sammeln und Fragen stellen, nicht als das gesehen werden, als das sie sich selbst empfinden, nämlich als besorgt, sorgend und mitdenkend. Vielmehr kamen sie sehr schnell in den Ruf anstrengend und unbequem zu sein, zu fordernd, zu hysterisch oder anmaßend. Unsere Absicht und die der meisten Eltern ist eher, unterstützend zu sein, weil wir es als zu anmaßend empfinden, daß sich ein Arzt, der sich noch um viele andere Patienten zu kümmern hat, in ein solch seltenes Krankheitsbild genauso hineinkniet, wie wir Eltern es aufgrund persönlicher Betroffenheit und ganz anderen Kapazitäten vermögen. Und wir sprechen niemanden, der uns eine Frage nicht beantworten kann, die Kompetenz ab. Wir können und wollen die Verantwortung für unser Kind nicht ganz aus der Hand geben. Wir möchten mitdenken, mitfragen und mitreden dürfen. Nicht, weil wir alles besser wissen, sondern weil wir die Verantwortung abgeben müssen. Und wir möchten ernst genommen werden in unseren Meinungen, in unseren Fragen und Anregungen. Und die möchten wir auch direkt sagen dürfen, ohne uns vorher stundenlang Gedanken machen zu müssen, ob sich der behandelnde Arzt auf den Schlips getreten fühlt. Auch in diesem Fall geht es sehr wohl um den o.g. Punkt der Abhängigkeit. Bestimmt haben wir es nicht vor, es uns mit irgendeinem unserer Ärzte, die ja für Benjamins und damit unser Leben wichtig sind, zu verscherzen. Und das ist ohne Ironie gesprochen. Für uns wird es wohl nie leicht sein, unser Kind Nacht für Nacht in die Obhut anderer Menschen geben zu müssen. Natürlich sehnen wir uns alle nach Veständnis für unsere Situation. Das wäre gewiß schön, aber vielleicht langt auch schon Toleranz, damit ein Miteinander gelingen kann. Toleranz, die das Wissen um die Situation des anderen einschließt.
Ein Schlußwort noch zum Thema Pflegedienst und Schwestern. Die häusliche Kinderkrankempflege ist, besonders nachts, ein schwieriges Gebiet und stellt alle Beteiligten vor eine große Herausforderung. Eine wichtige Voraussetzung für ein gutes Gelingen neben der Gesprächsbereitschaft, ist die Information beider Seiten. Unsere Wünsche und Erwartungen an eine Pflegedienst, bzw. deren Schwestern sind folgende:
- Pflegepersonal (gut wären Kinderkrankenschwestern, sind aber kein Muß) mit der Bereitschaft, sich in die Beatmungsproblematik einzuarbeiten.
- Bewußtsein für das Besondere der ambulanten Kinderkrankenpflege gegenüber der Arbeit in der Klinik (plötzlich haben Eltern, die ja eigentlich medizinische Laien sind, und nicht Ärzte das Sagen), d.h. Anerkennen, die Eltern sind der Kapitän und kennen ihr Kind einfach am besten.
- Respektieren der Privatsphäre (keine Schwestern im Schlafzimmer der Eltern) und der häuslichen Regeln (wir möchten z.B. einfach gerne, daß die Schuhe in der Wohnung ausgezogen werden).
Schließen möchten wir mit einigen Fragen, die, obwohl wir inzwischen vier Jahre auf dem Buckel haben, für uns noch nicht hinreichend geklärt sind. Wo wir Strategien entwickelt haben, die in manchen Situationen gut anzuwenden sind und in anderen, ähnlich gearteten so überhaupt nicht funktionieren. Wir fragen uns:
- Welche Ansprüche und Erwartungen sind realistisch, welche zu hoch gegriffen, welche schlichtweg eine Überforderung?
- Wieviel Distanz, wieviel Nähe ist nötig oder wichtig? Welche "Zuckerln“ (Aufmerksamkeiten) brauchen Schwestern, brauchen Schwestern "Zuckerln“?
- Wie werden Konflikte gelöst? Wann soll man lieber mal schlucken? Kann ich auch mal etwas sagen, ohne Angst haben zu müssen, daß das an meinem Kind ausgeht
- Gibt es überhaupt Patentrezepte, Allgemeingültiges?
Und so bleibt uns am Schluß eigentlich nur noch übrig "Danke“ zu sagen. Wir sind dankbar für alle, die diesen Weg gemeinsam mit uns gehen, die uns unterstützen, Mut machen, verstehen und helfen. Die mit uns nach Lösungen suchen, wie man Konflikte vermeiden oder lösen kann. Damit eins gelingt: Daß Benjamin so gesund und "normal“ wie möglich aufwachsen kann.